Die Entstehung der Wissenschaften spielte seit der Französischen Revolution eine entscheidende Rolle für die Konzeptualisierung des Staunens und seine poetischen Anwendungen. Jedoch blieb diese Geschichte weitgehend unerforscht, da sie einen interdisziplinären Zugang verlangt, der ein heute an den Rand der Literatur verbanntes Korpus und wissenschaftliche Diskurse berücksichtigt: poésie scientifique, populärwissenschaftliche Bücher und Zeitschriften. Das Teilprojekt "Das Schicksal der Wunder" greift die Frage nach diesem Zusammenhang von Wissen(schaft)sgeschichte, Dichtung und Staunen unter zwei Perspektiven auf: Einerseits im Blick auf die Modellierung kultureller Dynamiken der Moderne, andererseits auf die Reflexion der Veränderungen des Konzepts und der Bewertung des Wunderbaren in Dichtung und Wissenschaft.
A. Historischer Überblick
Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weisen einige Literaturkritiker auf den abgenutzten Effekt des "merveilleux surnaturel" hin und ermuntern die Dichter, stattdessen nach einem "merveilleux moderne" zu suchen (Marmontel). Die Mythologie wird als ein "so allgemein gewordener Schatz" empfunden, dass damit keine Ehre mehr zu holen ist (Fontenelle), und die christlichen Wunder waren bereits vor der Aufklärung schon zu sehr in Frage gestellt worden, als dass sie noch glaubwürdig gewesen wären. Der Wissenschaft kommt in dieser Entwicklung eine wesentliche Rolle zu, weil sie als Institution, die sich der Erforschung der Realität verpflichtete, zur Garantin des Glaubhaften wurde. So handelten sich die Wissenschaften den hartnäckigen Ruf ein, die Zerstörung von Fabeln in Kauf zu nehmen. Umgekehrt aber haben die Wissenschaften auch die Fähigkeit, ausserordentliche Motive, die wahr oder wahrscheinlich sind, zu entdecken und damit neue Möglichkeiten, ein Publikum in Staunen zu versetzen. Diese Ambivalenz macht deutlich, warum die Zeitgenossen sich mit der Einschätzung der Beziehungen zwischen Wissenschaftlern und Dichtern schwer tun, und ist gleichzeitig der Grund für eine Debatte, die das 19. Jahrhundert durchzieht. Viele Dichter reagieren empfindlich auf die Weise, mit welcher der Aufschwung der Wissenschaften die Wertschätzung der Leser den Trugbildern der Imagination gegenüber schmälert. Allgemein tendieren diese Positionen dazu, die Dichtung zu einer dem empirischen Wissen entgegengesetzten Instanz zu machen, beauftragt, ein verlorenes Gefühl des Übernatürlichen wiederherzustellen. Andere Autoren begrüssen aber die der Wissenschaft zu verdankenden "merveilles croyables", die ihr bisher fehlten (Gouge de Cessière). Marmontel macht das "merveilleux naturel" zum Ureigenen der Moderne und fordert die Dichter dazu auf, Entdeckungen wie "les phénomènes de l'électricité" zu besingen. Dieses Programm wurde mit Erfolg von der poésie scientifique aufgenommen, die sich während der Französischen Revolution und dem Empire entwickelte. Jacques Delille beispielsweise stellte 1808 in den Trois Règnes de la nature die zeitgenössische Physik, Botanik und Chemie in Versform dar und unterstrich, dass die Wissenschaft die alten "miracles" nur zerstöre, um neue "prodiges" zu offenbaren. Diese Position greift auch Camille Flammarion 1865 in seinen Merveilles célestes auf. Vielen wissenschaftlichen Texten evozieren ein Staunen, das nicht nur am Ursprung ihrer Forschungen steht, sondern auch ein Effekt ihrer Resultate ist. Ob empirische Erkenntnisse eingesetzt sind als Motiv für die Glorifizierung des göttlichen Schöpfers (in der Tradition der mirabilia), oder ob sie einer nicht religiösen Ideologie dienen (wie bei Renan), es erscheint legitim, vom Aufkommen eines "merveilleux réel" und paradoxerweise "ordinaire" zu sprechen, von einem Verständnis der Wissenschaften als neuer mythopoetischer Instanz (vgl. Apollinaire, L'esprit nouveau et les poètes).
Unter einer Kulturherrschaft, der die Neuigkeit ein sine qua non bedeutet, kann aber nur das Noch-nicht-Dagewesene oder besonders Originelle den Status eines modernen Wunders erlangen. Es gehorcht einer Logik der Primultimität, des ersten Mals, und muss einen choc provozieren können. Dies nimmt in der Baudelaireschen Ästhetik und in der Dynamik der Avantgarde eine zentrale Stellung ein. Dieses Bedürfnis nach Überraschung ist ein Merkmal eines stark aufgewerteten Begriffs des Staunens, der zu einer Neubewertung der Zeitmodalitäten im literarischen Werk führt. Die Poesie hat sich nunmehr der paradoxen Forderung nach Fortbestehen und Vergänglichkeit zu unterwerfen. Aber sie muss auch die Qualität der Überraschung, die sie produziert, ausstellen, denn das zu einem Verfahren gewordene Erstaunen wird zum Objekt eines Misstrauens, das selber neu ist im Bereich einer Affekt-Rhetorik: Der Ausdruck "épater le bourgeois", der sich gegen 1850 verbreitet, um einen brutalen Eindruck auf die Rezipierenden zu beschreiben, erhält schnell eine pejorative Bedeutung. Nun spielt in dieser Entwicklung wiederum die Wissenschaft eine wichtige Rolle. Sie gehorcht in Bezug auf ihre Errungenschaften einem Schema fortwährender Hinterfragung und hört nicht auf, aufgrund der exponentiellen Vermehrung der Entdeckungen das Aussergewöhnliche gewöhnlich zu machen. Dies bedeutet eine doppelte Instabilität, die das Vorhaben einer von den Wissenschaften motivierten Erneuerung des Wunderbaren in der Dichtung gefährdet und dazu führt, wie Flaubert in Bouvard et Pécuchet zeigt, die Begeisterung, die Wissenschaft und Technik ungeachtet der Unsicherheit ihrer Errungenschaften hervorrufen, als ein Affekt, der mit Dummheit (bêtise) markiert ist, darzustellen.
B. Analyse des Staunens als Verflechtung zwischen Dichter und Wissenschaftler
Vergleichende und diachrone Analyse derjenigen Diskurse, welche die Rolle des Staunens im wissenschaftlichen und poetischen Schaffens- und Rezeptionsprozess behandeln: Hierbei soll einerseits die Gültigkeit des Gemeinplatzes, die Philosophie bzw. die Wissenschaft habe ihren Ursprung im Staunen, untersucht werden. Andererseits soll die Art, wie Ähnlichkeit oder Konkurrenz zwischen Dichtern und Wissenschaftlern postuliert wird, in den Fokus des Interesses rücken.
Semantische und diskursive Aspekte: Anhand repräsentativer Werke soll die lexikalische Bandbreite des Staunensbegriffs (merveille, prodige, prestige, enchantement, miracle, admiration, , stupeur, usw.) betrachtet werden, um die ihm zugeschriebenen Bedeutungen und Wertungen zu bestimmen.
Formale Aspekte: Da die Verschriftlichung immer nachträglich auf die Erfahrung des Staunens durch den Schriftsteller erfolgt, wird für Wissenschaft und Literatur die Poetik von Szenen des Staunens zu analysieren sein.
C. Dynamiken des Staunens
Das wissenschaftliche "merveille" entkommt nicht der Banalisierung, wodurch die Dynamik des Staunens als Zyklus gesehen werden kann. Gibt es ein Modell für die Zirkulation wissenschaftlicher Motive zwischen gelehrtem- und poetischem Diskurs in Form? Wieviele Male kann eine wissenschaftliche Entdeckung in Versen zelebriert werden, bevor sie den Glanz des Neuen verliert? Mehrere Fälle sollen analysiert werden, um die entscheidende Rolle, die solche Zyklen in der Literarisierung der Wissenschaften und der Verwissenschaftlichung der Literatur gespielt haben, zu verdeutlichen.
Das Staunen kann als epistemologisches Hindernis im Sinn Bachelards gesehen werden, als ein vorwissenschaftliches Moment, wonach das rationale Verstehen den Wundereindruck aufhebt, oder als ein ausserhalb des Gegenstands der Wissenschaft anzusiedelndes Artefakt. Diese Standpunkte implizieren eine Kritik, die auf Werturteilen gründet und befördern eine Infragestellung der Instrumentalisierung des Staunens im Bereich der Popularisierung des Wissens.
Inwiefern spielte das Risiko der Banalisierung oder Falsifizierung staunenerregender Themen eine Rolle für die Substitution der Bewunderung (admiration) durch Unruhe und für eine thematische Aufwertung des Alltäglichen, d.h. des Abgedroschenen, geknüpft an die Forderung nach einer strikt stilistischen Fabrikation des Aussergewöhnlichen und des Staunens?
D. Literatur und Entomologie
Das von Thibaud Martinetti bearbeitete Dissertationsprojekt behandelt diese Fragen mit Blick auf ein spezielles Wissensgebiet, die Entomologie.