Sébastien Le Clerc, Caractères des passions, gravés sur les desseins de l'illustre Mons. Le Brun

Sébastien Le Clerc, Caractères des passions, gravés sur les desseins de l'illustre Mons. Le Brun

Poetik und Ästhetik des Staunens 

Ein Sinergia-Projekt des Schweizerischen Nationalfonds

 

Staunen wird seit der Antike als zentrales Moment von Erkenntnisprozessen und Wissenskulturen gesehen, spielt aber auch in Überlegungen zur Kunst-Rezeption und Kunst-Wirkung eine wesentliche Rolle. Ziel des Projekts war es, im Moment des Staunens diese enge Verflechtung und gegenseitige Abhängigkeit von Wissenschaft und Dichtung, von experimenteller Forschung und Imagination, von Technik und Kunst herauszustellen. Als Phänomen, das genuin mit Wissen und Wahrnehmung verbunden ist, indem es eine epistemische Grenze indiziert, die sich sowohl auf logisch-reflektiertes Wissen beziehen kann als auch auf Wahrnehmungs- und Erfahrungswissen, ist Staunen einerseits an Wissenstraditionen sowie Verfahren der Wissensgenerierung und -vermittlung geknüpft, andererseits mit projektierenden Prozessen der Vorstellung und Imagination, der Weltsetzung und -ordnung verbunden. Staunen konstituiert sich so als Schnittpunkt epistemischer, poetischer und ästhetischer Diskurse.

Das Projekt schlug dabei einen Bogen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert und berücksichtigt drei sprachlich-kulturell unterschiedliche, jedoch eng vernetzte Literaturen und Kunsttraditionen. Das ermöglicht einerseits, sich wandelnde Vorstellungen von dem, was Staunen ist, genau zu beobachten. Anderseits ließ sich verfolgen, wie "Staunen" – immer in der Spannung zwischen Erkenntnis und Erfindung gesehen – je nach kulturellen und historischen Kontexten in verschiedenen Deutungs- und Wertungssystemen eine Rolle spielt. 

Davon ausgehend arbeitete dieses Sinergia-Projekts die Relevanz des Staunens für Poetik und Ästhetik sowohl in historischer wie systematischer Perspektive heraus. Eine Systematik von Frageperspektiven und theoretisch fokussierten Problemstellungen zielte dabei auf die Erarbeitung grundlegender Beobachtungen bezüglich einer Poetik und Ästhetik des Staunens: 1. Transgression und Arretierung; 2. Artifizialität; 3. Visualität 

Das Sinergia leistete mit seiner Forschung nicht nur einen entscheidenden Beitrag von Seiten der Literaturwissenschaft zu den in letzter Zeit aktuellen Debatten zu ästhetischen Emotionen und zum Verhältnis von Wissen und Literatur, sondern auch zu der Frage nach dem Selbstverständnis von Literatur in einer Wissensgesellschaft.

Projektleitung

 

Teilprojekte

 

Assoziierte Projektpartner

TP 1: Poetik des Staunens in Mittelalter und Früher Neuzeit

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Das Teilprojekt "Poetik des Staunens in Mittelalter und Früher Neuzeit" stellt die Frage, inwiefern in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit der Affekt des Staunens (admiratio und stupor) als Instrument literarischer Selbstreflexion inszeniert ist. Dabei gilt die Aufmerksamkeit vor allem der zeitlichen, räumlichen und medialen Spezifik der poetologisch wirksamen Staunensprozesse und -momente. Auf dem Hintergrund der (lateinischen) theologisch-religiösen sowie philosophisch-wissenschaftlichen Staunens-Diskurse wird dabei die These aufgestellt, dass Staunen gerade durch seine in der Regel nicht klare diskursive Gebundenheit in der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters zum Ort der Verhandlung von Werten und Wissensinhalten und darüber von Wahrnehmungsmustern wird. 

In der Beobachtung der in literarischen Texten inszenierten Staunensmomente und der durch literarische Texte evozierten Staunensreaktionen, richtet sich der Blick auf die Instrumentalisierung dieser semantischen Leerstellen als den Momenten, in denen die Problematik und Gefahr, aber auch die Potenz sprachlicher Weltreflexion und -darstellung als eines Raums der Möglichkeiten und des Spiels deutlich werden. 

Im Blick auf die frühneuzeitliche Erzählliteratur, in deren Horizont nicht nur verschiedene begriffliche und systematische Verschiebungen innerhalb der Wissensdiskurse zu beobachten sind, sondern im Kontext neu gewerteter curiositas und erfarung(experienz) auch Fragen der literarisierten und literarischen Darstellung von Weltwissen im Rahmen von Wahrheit (historia) und Lüge (fabula) reflektiert werden, zielt die Frage nach dem Staunen auf die Engführung von epistemologischer und poetologischer Thematik. 

Das Teilprojekt fokussiert Staunen in der volkssprachlichen Literatur unter epistemologischen und poetologischen Aspekten, wobei die These ist, dass sich die zwei Perspektiven im Blick auf das Staunen gerade nicht trennen lassen. Folgende Leitfragen werden verfolgt:

  • Staunen, Weltreflexion und Poiesis

  • Staunen und Selbstreflexion

  • Staunen, Artifizialität und Dichtkunst

  • Ästhetisches Staunen

Innerhalb des Gesamtprojekts kommt diesem Teilprojekt (in enger Zusammenarbeit mit TP 2.0) die Aufgabe zu, einerseits diskursive Vorgeschichten zu den neuzeitlichen wissenschaftlichen und ästhetischen Staunensdiskursen zu erarbeiten, anderseits durch die noch unfeste Begrifflichkeit in den vorliegenden Quellen eine Arbeit am Begriff fassbar zu machen und so die in Teilprojekt 3.0 und 4.0 untersuchten Poetiken des Staunens über diskursive Verschiebungen und Umwertungen in ihrer historischen Tradition zu verfolgen. Das von Selena Rhinisperger verfolgte Dissertationsprojekt fragt nach einer Staunenspoetik im höfischen Roman.

TP 2: Das Staunen in der Dichtung und in der poetologischen Reflexion der italienischen Literatur – von Dante und Petrarca bis zum Ausgang der Renaissance

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In diesem Projektbereich werden in einem ersten Teil die lyrischen und philosophischen Texte Dantes und Petrarcas nach einer Ästhetik des Staunens befragt. Ausgegangen wird von der Annahme, dass das Staunen als subjektive Erfahrung von diesen Autoren erstmals gezielt in Szene gesetzt wurde. Während bei Dante das Staunen in der subjektivierten Erfahrung des Jenseits begründet liegt, ist das Staunen bei Petrarca als Staunen über die Innenwelt des Geistigen sowie als Einbildungskraft des Dichters bereits als ästhetisches Phänomen konzipiert. Die zentrale Bedeutung des Staunens bezüglich der Vermittlung an die Leser wie auch innerhalb der Struktur und Sinnkonstitution der Texte soll herausgearbeitet werden.

In einem zweiten Teil, werden Funktion und Bedeutung des Staunens – vornehmlich anhand der Begriffe «admiratio» und «meraviglia» – in den poetologischen Schriften der Renaissance untersucht. Das Staunen wird in diesen Texten, die sich im Umfeld der antiken Rhetoriken sowie der (Wieder-)Entdeckung verschiedener griechischer Poetiken (Pseudo-Longin, Aristoteles) etablierten und entwickelten, zu einem zentralen Moment, das sowohl produktions- wie auch rezeptionsästhetische Reflexionen in sich bündelt: Es wird zu einem grundlegenden ästhetischen und poetologischen Konzept. Mit der Untersuchung der Texte aus dem Quattro- und Cinquecento soll zudem gezeigt werden, inwiefern diese als Grundpfeiler für die Entwicklung der europäischen Literatur und Literaturtheorie gesehen werden können, u.a. in Bezug auf den Geniebegriff sowie den Begriff des Sublimen/Erhabenen. Der zweite Teil bildet das Dissertationsprojekt von Andrea Elmer.

«Denn das Staunen ist eine Betäubung des Geistes durch das Sehen, Hören oder Wahrnehmen grosser und wunderbarer Dinge; insofern sie gross erscheinen, erzeugen sie in jenem, der sie wahrnimmt, Verehrung; insofern sie wunderbar erscheinen, machen sie begierig, etwas darüber zu wissen. Und deshalb haben die alten Könige in ihren Wohnstätten wunderbare Arbeiten aus Gold, Steinen und Kunstfertigkeit gemacht, auf dass jene, die sie sehen, in Staunen versetzt werden und dadurch ehrfurchtsvoll und zu solchen, die ehrenvolle Bedingungen des Königs erbitten.»

Dante Alighieri, Das Gastmahl. Viertes Buch, übersetzt von Thomas Ricklin, eingeleitet und kommentiert von Ruedi Imbach, Hamburg 2004, S. 181 (Convivio IV, xxv, 5).

«Indem ich nun alles im einzelnen bewunderte und einmal etwas Irdisches bedachte, einmal den Geist – ähnlich wie den Leib – zur Höhe lenkte, fiel mir ein, die Confessionen von Augustinus, ein Geschenk deiner Güte, aufzuschlagen, das ich zum Andenken sowohl an den Schöpfer wie an den Spender wohl behüte und ständig bei mir habe […]. Ich schlage es auf, um zu lesen, was immer mir in die Augen falle, denn was anderes konnte es sein als etwas Frommes und Erbauliches? Zufällig aber bot sich das zehnte Buch dieses Werkes an. Mein Bruder stand in der Hoffnung, aus meinem Mund ein Wort von Augustinus zu hören, mit offenem Ohr an meiner Seite. Gott ist mein Zeuge und auch er, der es miterlebte, dass die Stelle, auf die mein Auge fiel, so lautet: "Da gehen nun die Menschen hin, um die Höhe der Berge, die mächtigen Fluten des Meeres, die breit hinströmenden Flüsse, den Umkreis des Ozeans und die Bahnen der Gestirne zu bewundern, und verlieren dabei sich selbst." Ich erstarrte, so gesteh ich, und indem ich den wissbegierigen Bruder bat, mich mir selber zu überlassen, schloss ich das Buch, zornig auf mich, weil ich auch jetzt noch Irdisches bewunderte, obwohl ich längst – sogar von heidnischen Philosophen – hätte lernen müssen, dass ausser der Seele nichts wunderbar, und neben ihrer Grösse nichts gross ist.»

Francesco Petrarca, Fam. 4.1, an Dionigi da Borgo San Sepolcro vom Augustinerorden, in: Francesco Petrarca: Familiaria. Bücher der Vertraulichkeiten, hrsg. von Berthe Widmer, Berlin 2005, S. 185.

TP 3: Poetiken des Staunens vom späten 17. bis frühen 19. Jahrhundert

Im deutschen Sprachraum wird das Staunen im 18. Jahrhundert zu einer grundlegenden poetologischen und ästhetischen Kategorie, die in den zur gleichen Zeit entworfenen Poetiken des Neuen, Wunderbaren und Erhabenen entwickelt wird, welche die dichtungstheoretischen Diskussionen aus dem romanischen und englischen Sprachraum aufgreifen und weiterführen. Das Teilprojekt setzt bei einer Neulektüre grundlegender Texte (z.B. von Gottsched, Breitinger, Baumgarten, Meier, J.A. Schlegel, Wieland, Mendelssohn, Riedel, Tieck, Novalis u.a.) als um das Staunen kreisende Affektpoetiken an. Es geht dabei von vier systematischen Leitfragen aus (siehe dazu im Detail: Gess: Staunen als ästhetische Emotion, 2013):

(1) Was ist Staunen und was ist Staunen als ästhetischer Affekt (d.h. als affektive Reaktion auf ästhetische Objekte)? Hier wird insbesondere die an Descartes angelehnte Hypothese des Teilprojekts zu prüfen sein, Staunen als ersten, d.h. allen anderen ästhetischen und affektiven Valorisierungen vorausgehenden Affekt zu verstehen.

(2) Durch welche ästhetischen Reize wird Staunen erregt? Zwei der unten ausgeführten Schwerpunkte schließen an diese Frage an: siehe unten A, B.

(3) Was sind die Auswirkungen und Funktionen von Staunen als ästhetischem Affekt? Hier wird insbesondere auf die in den Texten zu beobachtende Ambivalenz einzugehen sein, Staunen einerseits, in der Aristotelischen Tradition des thaumazein stehend, als einen zur Erkenntnissuche animierenden Affekt zu instrumentalisieren, andererseits aber auch als einen Affekt zu verstehen, der an sich (und nicht erst durch den antizipierten Wissensgewinn) lustvoll ist und darum gerade umgekehrt zum Verharren in der Unwissenheit motiviert. Descartes unterscheidet entsprechend étonnement und admiration. Den Aufklärungspoetiken bleibt das Staunen darum ebenso verdächtig, wie es von den barocken Spektakelästhetiken gefeiert wird.

(4) Hat Staunen als ästhetischer Affekt einen historischen Index? Hier verlässt das Teilprojekt seinen historischen Rahmen und geht der Vermutung nach, dass im Kontext moderner Einfühlungsästhetiken das Staunen, das eine Distanznahme impliziert, einerseits einen schwereren Stand haben muss; andererseits geht das Teilprojekt jedoch davon aus, dass das Staunen - entkoppelt vom Begriff des Wunderbaren, der in den deutschen Poetiken seit Mitte des 19. Jahrhunderts kaum noch präsent ist - in neuen generischen Zusammenhängen wie der Science Fiction, in neuen Medien wie dem frühen Film und in neuen ästhetischen Praktiken (der Verfremdung, des filmischen Special Effects, dazu siehe unten) erneut eine zentrale Rolle spielt.

Auf diesen für das ganze Sinergia grundlegenden Fragen aufbauend konzentriert sich das Teilprojekt auf folgende vier Schwerpunkte (A, B, C: bearbeitet durch Gess; D: bearbeitet durch Huff):
 

(A) Poetiken der Störung. Im Anschluss an die oben gestellte zweite Frage interessiert sich das Teilprojekt vor allem für literarische Verfahren der Verfremdung. Es geht von der Hypothese aus, dass das Staunen als Störung einer Ordnung (im Objekt wie im Subjekt) zu verstehen ist: dem gestörten Objekt entspricht ein ge- und zugleich ver-störtes Subjekt. Auf Seiten des Subjekts ist hier vor allem an eine Störung seiner Erwartungshaltung zu denken. Auf Seiten des Objekts an Verfahren, die den Text vom Vertrauten plötzlich ins Fremde umkippen lassen, sei dies auf inhaltlicher (z.B. Moment der Peripetie) oder stilistischer Ebene (z.B. ungewohnte Metapher). In dieser Weise spürt das Teilprojekt der Vorgeschichte des Verfahrens der Verfremdung nach, das man gemeinhin mit der literarischen Moderne und ihren Vertretern wie Šklovskij oder Brecht assoziiert.

 

Gottsched, Johann ChristophErste Gründe der gesammten Weltweisheit darinn alle philosophische Wissenschaften, in ihrer natürlichen Verknüpfung, in zweyn Theilen abgehandelt werden ; Zum Gebrauche akademischer Lectionen entworfen ; Mit einer kurzen p…

Gottsched, Johann Christoph

Erste Gründe der gesammten Weltweisheit darinn alle philosophische Wissenschaften, in ihrer natürlichen Verknüpfung, in zweyn Theilen abgehandelt werden ; Zum Gebrauche akademischer Lectionen entworfen ; Mit einer kurzen philosophischen Historie, nöthigen Kupfern und einem Register

Leipzig 1762, Ph.u. 221-1

(B) Archäologie des Special Effects im 17./18. Jahrhundert. In Zusammenarbeit mit dem Modul "Die Visualität der Barockoper" im NCCR eikones-Bildkritik interessiert sich das Teilprojekt für "Special Effects" als ästhetisches Verfahren zur Erzeugung von Staunen. Es untersucht dieses Verfahren sowohl in der Barockoper des späten 17. und 18. Jahrhunderts, deren Spezialeffekte in ästhetischen und poetologischen Schriften des 18. Jahrhunderts häufig zum Gegenstand der Kritik werden, als auch in der Literatur dieser Zeit, deren entsprechende Spezialeffekte durch das Teilprojekt allererst zu erarbeiten sind (z.B. Plötzlichkeit, Mannigfaltigkeit, Intensität, ua.). Unter dem "Special Effect" versteht das Teilprojekt, in Anlehnung an filmwissenschaftliche Überlegungen, Verfahren, die - um hier Urs Stäheli aufzugreifen - das Moment der sinnlichen Erfahrung selbst zu steigern versuchen, indem sie einerseits das Nichtdarstellbare darstellen (im 18. Jahrhundert etwa durch das Wunderbare repräsentiert) und andererseits zugleich die Bedingungen der Darstellbarkeit sichtbar machen bzw. auf diese reflektieren. Insofern hängt der Staunensdiskurs hier immer schon mit einem Diskurs über das Artefakt zusammen.

(C) Die visuelle Codierung des Staunens im poetologisch-literarischen Diskurs des langen 18. Jahrhunderts: In diesem Zusammenhang beschäftigt sich das Teilprojekt sowohl mit optischen Instrumenten und ihrer poetologischen Funktion als auch mit literarischen Portraits als Instrumenten literarischer Selbstreflexion.

(D) Das von Micha Huff bearbeitete Dissertationsprojekt verfolgt die Frage nach einer Gattungspoetik des Staunens anhand von kleinen Prosaformen im späten 18. Jahrhundert. 

TP 4: Das Schicksal der Wunder: Dynamiken des Staunens zwischen Wissenschaft und Dichtung von 1800 bis 1945

Die Entstehung der Wissenschaften spielte seit der Französischen Revolution eine entscheidende Rolle für die Konzeptualisierung des Staunens und seine poetischen Anwendungen. Jedoch blieb diese Geschichte weitgehend unerforscht, da sie einen interdisziplinären Zugang verlangt, der ein heute an den Rand der Literatur verbanntes Korpus und wissenschaftliche Diskurse berücksichtigt: poésie scientifique, populärwissenschaftliche Bücher und Zeitschriften. Das Teilprojekt "Das Schicksal der Wunder" greift die Frage nach diesem Zusammenhang von Wissen(schaft)sgeschichte, Dichtung und Staunen unter zwei Perspektiven auf: Einerseits im Blick auf die Modellierung kultureller Dynamiken der Moderne, andererseits auf die Reflexion der Veränderungen des Konzepts und der Bewertung des Wunderbaren in Dichtung und Wissenschaft. 

 


A. Historischer Überblick 

Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weisen einige Literaturkritiker auf den abgenutzten Effekt des "merveilleux surnaturel" hin und ermuntern die Dichter, stattdessen nach einem "merveilleux moderne" zu suchen (Marmontel). Die Mythologie wird als ein "so allgemein gewordener Schatz" empfunden, dass damit keine Ehre mehr zu holen ist (Fontenelle), und die christlichen Wunder waren bereits vor der Aufklärung schon zu sehr in Frage gestellt worden, als dass sie noch glaubwürdig gewesen wären. Der Wissenschaft kommt in dieser Entwicklung eine wesentliche Rolle zu, weil sie als Institution, die sich der Erforschung der Realität verpflichtete, zur Garantin des Glaubhaften wurde. So handelten sich die Wissenschaften den hartnäckigen Ruf ein, die Zerstörung von Fabeln in Kauf zu nehmen. Umgekehrt aber haben die Wissenschaften auch die Fähigkeit, ausserordentliche Motive, die wahr oder wahrscheinlich sind, zu entdecken und damit neue Möglichkeiten, ein Publikum in Staunen zu versetzen. Diese Ambivalenz macht deutlich, warum die Zeitgenossen sich mit der Einschätzung der Beziehungen zwischen Wissenschaftlern und Dichtern schwer tun, und ist gleichzeitig der Grund für eine Debatte, die das 19. Jahrhundert durchzieht. Viele Dichter reagieren empfindlich auf die Weise, mit welcher der Aufschwung der Wissenschaften die Wertschätzung der Leser den Trugbildern der Imagination gegenüber schmälert. Allgemein tendieren diese Positionen dazu, die Dichtung zu einer dem empirischen Wissen entgegengesetzten Instanz zu machen, beauftragt, ein verlorenes Gefühl des Übernatürlichen wiederherzustellen. Andere Autoren begrüssen aber die der Wissenschaft zu verdankenden "merveilles croyables", die ihr bisher fehlten (Gouge de Cessière). Marmontel macht das "merveilleux naturel" zum Ureigenen der Moderne und fordert die Dichter dazu auf, Entdeckungen wie "les phénomènes de l'électricité" zu besingen. Dieses Programm wurde mit Erfolg von der poésie scientifique aufgenommen, die sich während der Französischen Revolution und dem Empire entwickelte. Jacques Delille beispielsweise stellte 1808 in den Trois Règnes de la nature die zeitgenössische Physik, Botanik und Chemie in Versform dar und unterstrich, dass die Wissenschaft die alten "miracles" nur zerstöre, um neue "prodiges" zu offenbaren. Diese Position greift auch Camille Flammarion 1865 in seinen Merveilles célestes auf. Vielen wissenschaftlichen Texten evozieren ein Staunen, das nicht nur am Ursprung ihrer Forschungen steht, sondern auch ein Effekt ihrer Resultate ist. Ob empirische Erkenntnisse eingesetzt sind als Motiv für die Glorifizierung des göttlichen Schöpfers (in der Tradition der mirabilia), oder ob sie einer nicht religiösen Ideologie dienen (wie bei Renan), es erscheint legitim, vom Aufkommen eines "merveilleux réel" und paradoxerweise "ordinaire" zu sprechen, von einem Verständnis der Wissenschaften als neuer mythopoetischer Instanz (vgl. Apollinaire, L'esprit nouveau et les poètes). 

Unter einer Kulturherrschaft, der die Neuigkeit ein sine qua non bedeutet, kann aber nur das Noch-nicht-Dagewesene oder besonders Originelle den Status eines modernen Wunders erlangen. Es gehorcht einer Logik der Primultimität, des ersten Mals, und muss einen choc provozieren können. Dies nimmt in der Baudelaireschen Ästhetik und in der Dynamik der Avantgarde eine zentrale Stellung ein. Dieses Bedürfnis nach Überraschung ist ein Merkmal eines stark aufgewerteten Begriffs des Staunens, der zu einer Neubewertung der Zeitmodalitäten im literarischen Werk führt. Die Poesie hat sich nunmehr der paradoxen Forderung nach Fortbestehen und Vergänglichkeit zu unterwerfen. Aber sie muss auch die Qualität der Überraschung, die sie produziert, ausstellen, denn das zu einem Verfahren gewordene Erstaunen wird zum Objekt eines Misstrauens, das selber neu ist im Bereich einer Affekt-Rhetorik: Der Ausdruck "épater le bourgeois", der sich gegen 1850 verbreitet, um einen brutalen Eindruck auf die Rezipierenden zu beschreiben, erhält schnell eine pejorative Bedeutung. Nun spielt in dieser Entwicklung wiederum die Wissenschaft eine wichtige Rolle. Sie gehorcht in Bezug auf ihre Errungenschaften einem Schema fortwährender Hinterfragung und hört nicht auf, aufgrund der exponentiellen Vermehrung der Entdeckungen das Aussergewöhnliche gewöhnlich zu machen. Dies bedeutet eine doppelte Instabilität, die das Vorhaben einer von den Wissenschaften motivierten Erneuerung des Wunderbaren in der Dichtung gefährdet und dazu führt, wie Flaubert in Bouvard et Pécuchet zeigt, die Begeisterung, die Wissenschaft und Technik ungeachtet der Unsicherheit ihrer Errungenschaften hervorrufen, als ein Affekt, der mit Dummheit (bêtise) markiert ist, darzustellen. 


B. Analyse des Staunens als Verflechtung zwischen Dichter und Wissenschaftler 

Vergleichende und diachrone Analyse derjenigen Diskurse, welche die Rolle des Staunens im wissenschaftlichen und poetischen Schaffens- und Rezeptionsprozess behandeln: Hierbei soll einerseits die Gültigkeit des Gemeinplatzes, die Philosophie bzw. die Wissenschaft habe ihren Ursprung im Staunen, untersucht werden. Andererseits soll die Art, wie Ähnlichkeit oder Konkurrenz zwischen Dichtern und Wissenschaftlern postuliert wird, in den Fokus des Interesses rücken.
Semantische und diskursive Aspekte: Anhand repräsentativer Werke soll die lexikalische Bandbreite des Staunensbegriffs (merveille, prodige, prestige, enchantement, miracle, admiration, , stupeur, usw.) betrachtet werden, um die ihm zugeschriebenen Bedeutungen und Wertungen zu bestimmen.
Formale Aspekte: Da die Verschriftlichung immer nachträglich auf die Erfahrung des Staunens durch den Schriftsteller erfolgt, wird für Wissenschaft und Literatur die Poetik von Szenen des Staunens zu analysieren sein.



C. Dynamiken des Staunens 

Das wissenschaftliche "merveille" entkommt nicht der Banalisierung, wodurch die Dynamik des Staunens als Zyklus gesehen werden kann. Gibt es ein Modell für die Zirkulation wissenschaftlicher Motive zwischen gelehrtem- und poetischem Diskurs in Form? Wieviele Male kann eine wissenschaftliche Entdeckung in Versen zelebriert werden, bevor sie den Glanz des Neuen verliert? Mehrere Fälle sollen analysiert werden, um die entscheidende Rolle, die solche Zyklen in der Literarisierung der Wissenschaften und der Verwissenschaftlichung der Literatur gespielt haben, zu verdeutlichen.
Das Staunen kann als epistemologisches Hindernis im Sinn Bachelards gesehen werden, als ein vorwissenschaftliches Moment, wonach das rationale Verstehen den Wundereindruck aufhebt, oder als ein ausserhalb des Gegenstands der Wissenschaft anzusiedelndes Artefakt. Diese Standpunkte implizieren eine Kritik, die auf Werturteilen gründet und befördern eine Infragestellung der Instrumentalisierung des Staunens im Bereich der Popularisierung des Wissens.
Inwiefern spielte das Risiko der Banalisierung oder Falsifizierung staunenerregender Themen eine Rolle für die Substitution der Bewunderung (admiration) durch Unruhe und für eine thematische Aufwertung des Alltäglichen, d.h. des Abgedroschenen, geknüpft an die Forderung nach einer strikt stilistischen Fabrikation des Aussergewöhnlichen und des Staunens?



D. Literatur und Entomologie

Das von Thibaud Martinetti bearbeitete Dissertationsprojekt behandelt diese Fragen mit Blick auf ein spezielles Wissensgebiet, die Entomologie.

 

Publikationen

Teilprojekt 1

  • Thibaud Martinetti: „La Vie des abeilles de Maeterlinck: le vol nuptial de la vulgarisation et du symbolisme“, Actes de la journée d'étude Littérature et science au XIXe siècle, publiés dans la revue Épistémocritique [im Druck].

  • Thibaud Martinetti: „Du merveilleux vrai au sublime scientifique : Poétique de la découverte dans les Souvenirs entomologiques de Jean-Henri Fabre“, Actes des journées d'étude La Découverte scientifique dans les arts: persistance et mutation de la merveille du XIXe siècle à nos jours, publiés dans la revue Arts et savoirs [im Druck].

Teilprojekt 2

  • Johannes Bartuschat: Vie du poète et paratexte: Girolamo Squarciafico, les éditions de Boccace à la Renaissance et les enjeux de la biographie, in: Vies d’écrivains, Vies d’artistes. Espagne, France, Italie (XVIe–XVIIIe siècles), ed. M. Redisori, H. Tropé, D. Boillet, M-M. Fragonard, Paris, pp. 21-35.

  • Johannes Bartuschat: L’allégorie dans les «Triomphes», in: La bibliothèque de Pétrarque: livres et auteurs autour d’un humaniste, ed. M. Brock, F. La Brasca, F. Furlan, Turnhout, Brepols, 2011, pp. 267–281.

  • Johannes Bartuschat: Dante in Germania in età romantica, in: Letture e lettori di Dante. L’età moderna e contemporanea, ed. M. Ciccuto (Letture Classensi, vol. 39), Ravenna, Longo, 2011, pp. 47–70.

  • Johannes Bartuschat: L’ekphrasis dans la poésie allégorique médio-latine et dans l’«Amorosa Visione» de Boccace, in «Camenae», 8 (2010) (Online-Zeitschrift: Inhaltsverzeichnis: http://www.paris- sorbonne.fr/fr/spip.php?article4890; direkter Zugriff auf den Artikel: http://www.paris- sorbonne.fr/fr/IMG/pdf/7_article_5_Bartuschat-2.pdf).

  • Johannes Bartuschat: Una nota su «pittore» e «pittura» in Dante, in: Per i settant’anni di Enrico Fenzi, a cura di L. Surdich e S. Verdino, Genova, Il Canneto Editore, 2010, pp. 11–19.

  • Johannes Bartuschat: Appunti sull’ecfrasi in Boccaccio, in «Italianistica», XXXVIII/2 (2009), pp. 71–90.

  • Johannes Bartuschat: Boccace et Ovide: pour l'interprétation de l'«Elegia di Madonna Fiammetta», in «Arzanà. Cahiers de littérature médiévale italienne», numéro 6: La mémoire du texte. Intertextualités italiennes, ed. M. Marietti / C. Perrus, Paris, Presses de la Sorbonne Nouvelle, 2001, pp. 71–103.

  • Johannes Bartuschat: Dante voyageur dans le Purgatoire, in «Arzanà. Cahiers de littérature médiévale italienne», numéro 7: Dante poète et narrateur, ed. M. Marietti, C. Perrus, Paris, Presses de la Sorbonne Nouvelle, 2001, pp. 147–173.

  • Johannes Bartuschat: Fra Petrarca e gli Antichi: la «Poetica» e le «Rime» di Gian Giorgio Trissino, in: Petrarca e i suoi lettori, ed. G. Güntert, V. Caratozzolo, Ravenna, Longo, 2000, pp. 179–200.

  • Johannes Bartuschat (Ed.): Boccace à la Renaissance: lectures, traductions, influences en Italie et en France (=Cahiers d’études italiennes 8), Grenoble, ELLUG, 2008.

  • Johannes Bartuschat: Les «Vies» de Dante, Pétrarque et Boccace (XVIe–XVe siècles): contribution à l'étude du genre biographique, Ravenna, Longo, 2007.

 

Vorträge

 

  • Selena Rhinisperger: Das Erzählen als performativer Akt in der Crône Heinrichs von dem Türlin. Vortrag auf dem 25. Kongress der Internationalen Artusgesellschaft. Universität Würzburg, 25. Juli 2017.

  • Mireille Schnyder: Staunen in Mittelalter und Früher Neuzeit. Epistemie – Ästhetik – Poetik. Vortrag am Zentrum für Mittelalter- und Frühneuzeitforschung (ZMF) der Georg-August-Universität Göttingen, 22. November 2017.

  • Mireille Schnyder: Der verkehrte Blick: Staunen, Erkenntnis und Imagination. Vortrag auf der Tagung „Anthropologie der Kehre: Figuren der Wende in der Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit“. Westf. Wilhelms-Universität Münster, 28.-30. Juni 2017.

  • Mireille Schnyder: Überlegungen zu einer Ästhetik des Fremden. Abendvortrag auf der Tagung „Himmlisch, irdisch, höllisch: Religiöse und anthropologische Annäherung an eine historisierte Ästhetik“. Universität Tübingen, 19.-20. Mai 2017.

  • Selena Rhinisperger: Von wundern und âventiuren im Artusroman. Vortrag auf der Abschlusstagung „Poetiken des Staunens“. Universität Zürich, 01.-04. Februar 2017.

  • Mireille Schnyder: „Obskur, monströs und wahnsinnig“ . Der Text des Koran und seine Figurationen im westlichen Mittelalter. Vortrag auf der internationalen Tagung der Wolfram von Eschenbach-Gesellschaft „wildekeit. Spielräume literarischer obscuritas im Mittelalter“. Universität Zürich, 18.-21. Sept. 2016.

  • Mireille Schnyder: Erstaunlich! Lichteffekte in der sprachlichen Darstellung. Vortrag im Rahmen der Scientifica UZH/ETH, 5. Sept. 2015.

  • Mireille Schnyder: Der Persianische Rosenthal. Vortrag an der Tagung „Der Gottorfer Hofgelehrte Adam Olearius – Neugier als Methode?“. Expertentagung auf Schloss Gottorf, 24.-27. Juni 2015

  • Mireille Schnyder: Magie und Wunder. Oder: Simon gegen Simon. Zu einer Grunddichotomie christlicher Kultursemantik. Universität Erlangen, l7. Juni 2015.

  • Selena Rhinisperger: Poetik des Staunens im Artusroman. Vortrag an der Tagung „Staunen als Grenzphänomen“. Universität Zürich, 28.-31. Januar 2015.

  • Andrea Elmer: Das Staunen. Überlegungen zu Bedeutung, Konzeption und Ergiebigkeit des Begriffs für die Literaturwissenschaft, Vortrag an der Sommerschule «2. Werkstatt Literaturforschung» der Universität Zürich, 16.06.2014.

  • Nicola Gess: Troubled Resemblances. Portrait and Poetics in Late 18th Century Prose Fiction, Internationales Kolleg Morphomata, Universität Köln, 24 Juli 2017.

  • Nicola Gess: Stören und Staunen. Poetik der Verfremdung, Vortrag auf der internationalen Tagung der Universität Dresden: Imaginationen der Störung (Elisabeth Bronfen, Lars Koch), 19.6.2016.

  • Nicola Gess: Ästhetik des Spektakels. Barockoper revisited. Vortrag im Rahmen der internationalen Tagung „Spektakel als ästhetische Kategorie: Theorien und Praktiken“ an den Universitäten Weimar und Jena, ausgerichtet von Rita Rieger, Simon Frisch, Elisabeth Fritz, 20. November 2015.

  • Nicola Gess: „So horribly natural“: Portrait and Poetics in Wieland and Radcliffe. Gastvortrag an der Princeton University, German Department, 28.9.2015.

  • Nicola Gess: Ansätze zu einer Poetik des Wunderbaren um 1900, Vortrag auf der internationalen Tagung der Universität Saarbrücken: Das Wunderbare. Dimensionen eines Phänomens in Kunst und Kultur (Uwe Durst, Elisabeth Kreuzer), 24.7.2015.

  • Nicola Gess „So horribly natural“: Portrait and Poetics in Wieland and Radcliffe. Gastvortrag an der Harvard University, Department of Comparative Literature, 29.9.2015.

  • Nicola Gess: "So horribly natural". Portrait und Poetik bei Radcliffe und Wieland. Vortrag an der FU Berlin, 11.2.2014.

  • dies.: "Bist du Bild, oder Mensch?" Zum Portrait des Wunderbaren bei Breitinger, Wieland und Hoffmann. Vortrag an der Universität Jena, 15.1.2014.

  • dies.: "Vielleicht steckt Zauberei in diesem Kleinod hier". Zum Portrait des Wunderbaren bei Breitinger, Wieland und Hoffmann. Vortrag an der Uni Bonn, 2.5.2013.

Contact

Dr. Daniela Hahn
Universität Zürich
Deutsches Seminar
Schönberggasse 2
CH-8001 Zürich

Tel.: +41 (0)44 634 57 21
E-Mail: daniela.hahn@uzh.ch

 

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